01.01.2019

Wissen

Wenn das Gymnasium seine Schüler ermutigt, "etwas weiter" zu gehen

Vor rund 20 Jahren haben Schweizer Schulen begonnen, sich systematisch mit dem Thema Begabungsförderung auseinanderzusetzen. Auch wenn einige Gymnasien heute mit gutem Beispiel vorangehen, gibt es auf der Sekundarstufe II noch Luft nach oben, sagen Expertinnen und Experten.

Feiern an der Kantonsschule Wettingen. Bild: Martin Rizek (2017)

Jedes Jahr im Mai holt das Gymnasium Wettingen seine Festkleidung aus dem Schrank. Gefeiert werden weder der Frühling, noch ein Jubiläum, sondern die talentiertesten Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums. Im Rampenlicht stehen Jugendliche, die besondere Leistungen erbracht haben – an Sport- und Kunstwettbewerben oder den Wissenschafts-Olympiaden. Das Ganze erinnert ein wenig an die amerikanischen 'pep rallies': Stolz werden die Resultate der Basket- oder Footballmannschaft bekanntgegeben.

 

"Wir haben eine Vielzahl talentierter Schülerinnen und Schüler in unseren vier Wänden. Warum sollten wir das verstecken?", fragt sich die Chemie-Lehrerin Manon Haag. Für die Schulleitung des Aargauer Gymnasiums bietet das Fest eine Gelegenheit, den Kreis zu schliessen: Die Bemühungen im Bereich der Begabungsförderung sichtbar zu machen, die während des ganzen Jahres in - oder auch ausserhalb - der Klassenzimmer stattfinden. Denn in Wettingen gibt man sich nicht damit zufrieden, gelegentlich ein paar Genies zu unterstützen, die sich so sehr von den anderen abheben, dass sie im ungünstigsten Fall die Klasse stören. Hier geht man viel weiter: Die Schule hat ein Konzept zur Begabungsförderung entwickelt. Umgesetzt wird es von zwei Koordinatorinnen, eine davon ist Frau Haag.

 

"Bei uns gelten all jene Schülerinnen und Schüler als begabt, die sich sehr für ein Fach interessieren, die eine gewisse Leichtigkeit in diesem Fach mitbringen und die bereit sind, ihre Zeit und auch ihre Freizeit dafür herzugeben", führt Manon Haag aus. Die Jugendlichen erhalten die Möglichkeit, ihr Interesse zu vertiefen: in Form von Einzelprojekten - zum Beispiel mit einem Coaching einer Lehrperson - durch Hilfe beim Vorbereiten auf einen Wettbewerb oder das Teilnehmen an einem Workshop. "Die Möglichkeiten sind grenzenlos: vom kreativen Schreiben über die Vorbereitung auf die Robotik-Olympiade bis hin zum Komponieren von Musikstücken."

 

Röstigraben

Das Gymnasium Wettingen ist zur Vorreiterin geworden dank seinem ambitionierten Konzept. Dieses sieht auch vor, neue Lehrpersonen systematisch für das Thema Begabungsförderung zu sensibilisieren. Aber auch anderswo in der Schweizer Bildungslandschaft ist die Begabungsförderung am Aufkommen. Das Konzept ist Teil einer neuen Schulvision, die darauf setzt, Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern. In diesem Sinne geht es um ein Grundrecht, das in der Salamanca-Erklärung (UNESCO, 1994) verankert ist. Jeder Einzelne soll sein volles Potenzial nach seinen Fähigkeiten entfalten können, erinnert Ramona Meier, Koordinatorin des Netzwerks Begabungsförderung, einem deutschsprachigen Netzwerk ohne Pendant in der Romandie.

 

 

 

 

In Schweizer Fachkreisen wurde die Begabungsförderung Ende der 80er zum Thema, wie ein Bericht der KGU (Kommission Gymnasium-Universität) zeigt. Seit 1995 hat sich die Diskussion auf bildungspolitische Kreise ausgeweitet. Doch erst um die Jahrtausendwende wurden erste konkrete Massnahmen in den Schulen eingeführt, zunächst in der Primarstufe, später in den höheren Schulstufen. Die Etablierung der Begabungsförderung in der Sekundarstufe II ist jedoch bei weitem noch nicht abgeschlossen. "Zu viele Verantwortliche im Bildungsbereich sind immer noch der Meinung, dass Begabungsförderung an Gymnasien nicht unbedingt notwendig ist und argumentieren, dass diese ohnehin schon die Elite fördern", sagt Salomé Müller-Oppliger, Lehrgangsleiterin Begabungsförderung (Master, MAS, CAS) an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).

 

So wie es bei der Begabungsförderung zwischen den verschiedenen Bildungsstufen große Unterschiede gibt, gibt es diese - wie so oft in unserem föderalistischen Land - auch zwischen den Sprachregionen, den Kantonen und sogar den Bildungseinrichtungen. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter sind sich einig, dass in der Romandie das Optimierungspotenzial relativ gross ist. "Das bedeutet nicht, dass nichts getan wird", sagt Ramona Meier. "Aber es gibt keine Struktur wie die unsere, die die verschiedenen Akteure verbindet."  In den französischsprachigen Kantonen zielen viele Initiativen und Projekte auf das High Potential (HP) d.h. hauptsächlich auf intellektuelle Fähigkeiten. Expertinnen und Experten jedoch betonen, dass die Messung des intellektuellen Quotienten (IQ) bei weitem nicht der einzige relevante Faktor ist. "Leistung basiert auf anderen Charaktereigenschaften, wie der Ausdauer, der Fähigkeit sich anzustrengen oder der Selbstkontrolle", unterstreicht Salomé Müller-Oppliger.

 

Erfahrungsbericht: 
Pascal*, 18 Jahre, Schüler am Gymnasium Wettingen

Pascal spielt seit seinem siebten Lebensjahr Trompete. Der heute 18-jährige Aargauer Schüler, der das Wettinger Gymnasium besucht, widmet seinem Instrument fast eine Stunde pro Tag. Ganz zu schweigen von den Konzerten. Und das ist noch nicht alles: Als wahrer Musikliebhaber entschied sich der junge Mann, gleichzeitig Klavier zu spielen. "In der Regel fördert das Gymnasium Wettingen das Erlernen eines einzelnen Instruments, was bereits sehr gut ist. In meinem Fall haben sich die Verantwortlichen bereit erklärt, ein zweites Instrument miteinzubeziehen", freut sich Pascal. "Das Klavier erlaubt es mir, meine Technik und mein theoretisches Musikwissen zu vertiefen." Für den Gymnasiasten ist Musik jedoch "nur ein Hobby". Was ihn wirklich packt und was er als berufliche Karriere anstrebt, sind die Naturwissenschaften. "Seit dem ersten Chemieunterricht in der Schule war ich begeistert." Pascal nahm daher ohne zu zögern am Vorbereitungsprogramm seiner Schule für die Schweizer Chemie-Olympiade teil. Eine Gruppe von sieben Schülerinnen und Schüler und eine Lehrperson treffen sich einmal pro Woche nach dem Unterricht. "Wir müssen auch Übungen zu Hause machen", ergänzt Pascal. Der junge Mann glaubt, dass man in Wettingen "den Gymnasiasten wirklich die Möglichkeit gibt, weiter zu gehen, unabhängig von ihrem Interessensgebiet". Der einzige Dämpfer seiner Meinung nach? Dieses Angebot ist im Wesentlichen ausserschulisch. "Sie sollten meinen Wochenplan sehen: Er beinhaltet 50 Stunden!"
* Name auf Wunsch geändert

 

 

 

 

Das Interesse wecken

Die Koordinatorin des Netzwerks Begabungsförderung Ramona Meier gesteht: "Aufgrund kantonaler Unterschiede ist sogar für uns nicht immer klar, worum es bei der Begabungsförderung genau geht." Anstatt also nach einer Einheit zu suchen, die offensichtlich nicht existiert, macht es mehr Sinn, sich ins Feld zu begeben. Aufbruch zum Gymnasium in Trogen, Kanton Appenzell Ausserrhoden. Hier versteht man unter Begabungsförderung vor allem die Förderung in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Der Mathematiklehrer Dmitrij Nikolenkov stammt aus Russland, "wo die Förderung von MINT-Fächern selbstverständlich ist, ein wenig wie der Sport in der Schweiz". Er hat sich vorgenommen, seine Schülerinnen und Schüler zu motivieren, in diesem Bereich "ein bisschen weiter zu gehen". Aber Vorsicht, "es kommt nicht in Frage, die nächste Generation von 'Nerds' auszubilden", scherzt der Lehrer. "Nachdem ich mit einer Psychologin gesprochen hatte, wurde mir klar, dass die Beschränkung des Angebots auf Schülerinnen und Schüler, die als 'begabt' bezeichnet werden, ziemlich stigmatisierend sein kann."

 

In Trogen stehen Aktivitäten im Bereich der MINT-Fächer daher allen interessierten Jugendlichen offen. Sobald "das Interesse da ist, gehen wir einen Schritt weiter, z.B. indem wir Schüler an Wissenschafts-Gesellschaften weiterleiten oder den motiviertesten und talentiertesten die Teilnahme an der Wissenschafts-Olympiade anbieten». Die Grundaktivitäten des Gymnasiums umfassen auch eine Themenwoche - zum Phänomen Luft etwa -, Workshops mit mathematischen Knacknüssen oder den internationalen Mathematik-Wettbewerb Känguru. Dmitrij Nikolenkov betont, wie wichtig es ist, Jugendliche für die MINT-Fächer zu begeistern, denn "in der Schweiz sind viele Berufe mit diesen Fächern verbunden, insbesondere im Banken- und Pharmabereich."

 

 

 

 

Schaut man sich das Berner Gymnasium Hofwil an, so wird klar, dass die Förderung von Talenten auch radikaler gestaltet werden kann. Die Schule verfügt über ein Talentprogramm, das eine enge Zusammenarbeit zwischen der Schule, Swiss Olympic und der Hochschule der Künste Bern vorsieht. Das Angebot richtet sich an junge Sportlerinnen, Musiker, Künstlerinnen oder Schauspieler, deren Niveau bereits als «halbprofessionnel» bezeichnet werden kann. Die Talente besuchen alle dieselbe Klasse und haben fünf anstatt vier Jahre Zeit für die Matura. Ihr Wochenplan wird um etwa acht bis zehn Unterrichtsstunden verkürzt, "damit sie in ihren jeweiligen Fächern trainieren oder proben können", erklärt Peter Stalder, Rektor der Schule. Auch die Struktur des Unterrichts ist anders: "Etwa 30% des Lernens werden individuell durchgeführt, was den Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit gibt, ihre Zeit viel flexibler zu gestalten". Die Limitierung dieses Angebots, das gerade sein 20-jähriges Bestehen gefeiert hat, liegt logischerweise darin, dass es sich nur an ultra-talentierte Jugendliche richtet, die eine Karriere in ihrer Disziplin anstreben.

 

Die Lehrpersonen im Zentrum

Anderes Gymnasium, anderer Kanton: Am Collège St-Michel in Freiburg wird sicherlich viel für "Schüler mit Lernschwierigkeiten" getan, aber ohne "diejenigen zu vernachlässigen, die in bestimmten Bereichen Talent mitbringen", erklärt Matthias Wider, Rektor der zweisprachigen Schule. "Jungen Menschen, die an Veranstaltungen wie der Wissenschafts-Olympiade teilnehmen möchten, geben wir natürlich schulfrei." Der Rektor hebt ausserdem mehrere Initiativen hervor, die direkt vom Lehrpersonal kommen. "Hochmotivierte Philosophie-Lehrpersonen haben zum Beispiel eine Art Akademie gegründet, die Konferenzen organisiert und es geschafft hat, einen reichen Kern junger Philosophinnen und Philosophen aufzubauen."

 

Gerade dieses persönliche - und oft freiwillige - Engagement der Lehrpersonen scheint die Begabungsförderung schweizweit zu kennzeichnen.  Daher ist es wichtig, dass die Gymnasien, analog zu Wettingen, ihre Lehrkräfte sensibilisieren. Aber nicht nur das. "In jeder Schule sollte mindestens ein Lehrperson - oder ein Mitglied der Schulleitung - eine spezifische Ausbildung in Begabungsförderung haben", sagt Salomé Müller-Oppliger. Die Expertin der FHNW ergänzt, dass es den Schweizer Schulen fast unmöglich sein wird, "ihren Auftrag zu erfüllen, nämlich die Schülerinnen und Schüler in ihrer Vielfalt zu berücksichtigen", solange sie auf den Frontalunterricht als Modell setzen. Gruppenarbeit ist eine ausgezeichnete Alternative, "weil sie jungen Menschen ermöglicht, Aufgaben nach ihren Stärken und Interessen aufzuteilen."

 

 

Bilder: unsplash.com (Charles Deluvio, Kelly Sikkema), Biologie-Olympiade

 

Zur Autorin:
Patricia Michaud ist französischsprachige Journalistin. Deutsche Übersetzung: Nicole Schäfer, Mirjam Sager

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