18.03.2020

Equal opportunities

"Seid mutig!"

Das Leben fordert uns heraus: Was studieren? Wie mit Rückschlägen umgehen? Wie auf Sexismus reagieren? ETH-Rektorin Sarah Springman rät: Seid mutig, setzt auf Humor und übernehmt Verantwortung.

[Translate to English:] Sarah Springman im Gespräch mit Ivana, Informatik-Studentin an der ETH und Volunteer der Informatik-Olympiade. Bilder: Severin Nowacki

Wissenschafts-Olympiade: Frau Springman, viele Teilnehmende der Wissenschafts-Olympiaden stehen vor der Studienwahl. Sie studierten damals Ingenieurswissenschaften mit Spezialisierung auf Bauingenieurswissenschaften. Welche Kriterien waren ausschlaggebend für Sie?

Sarah Springman: Ich habe mich für dieses Fach entschieden, weil mich das Thema Bauen fasziniert hat. Ich war schon als Kind sehr neugierig, wollte herausfinden, wie etwas funktioniert. Was sind die Mechanismen beim Bauen? Wie funktionieren die Strukturen, wie die Materialien? Ich war sehr experimentierfreudig, als 12-Jährige baute ich Baumhäuser im Garten und spielte viel mit Sand. Ich erinnere mich daran, dass ich Bäche gestaut habe am Strand in Irland. Ich versuchte es mit verschiedenen Techniken — natürlich haben am Schluss immer die Bäche gewonnen (lacht).

 

Wie entstand dieses Interesse? Welche Rolle spielten Ihre Familie und die Schule?

Niemand in meiner Familie hat einen Hintergrund in den Ingenieurwissenschaften. Ausser vielleicht meinem Grossvater, den ich selbst nie kennengelernt habe, er ist im 2. Weltkrieg gestorben. Er war Anwalt und schätzte die Mathematik sehr, wie mir mein Vater erzählte. Meine Familie hat mich immer unterstützt, sie suchte im Freundeskreis nach Personen, die mir weiterhelfen konnten, wenn ich Fragen hatte.

 

 

Sehr geprägt hat mich die Schule, ich besuchte ein Fraueninternat. Dort gab es viele intelligente junge Frauen in meinem Alter, die auch ausgezeichnet waren in Mathematik. Das Lernumfeld war angeregt und positiv. Ich habe sehr viel mitgenommen, auch dank den hauptsächlich weiblichen Lehrerinnen. Es waren starke Persönlichkeiten, die didaktisch sehr geschickt vorgingen. Sie wurden zu meinen Vorbildern. Ich hatte viel Glück, dass meine Eltern in diese Form von Bildung investiert haben.

 

 

"Ich stehe heute als Rektorin hier, weil ich mutig bin."

 

 

Was raten Sie einer Gymnasiastin oder einem Gymnasiasten, die sich für ein ETH-Studium interessieren, aber daran zweifeln, ob sie das Studium bestehen werden?

Ich sage immer: Wer ein gewisses Mass an Talent mitbringt, sich Ziele setzt und hart arbeitet, der schafft es. Noch wichtiger finde ich, dass die Person neugierig ist, eine Leidenschaft fürs Thema mitbringt. Denn das Studium, egal an welcher Uni, braucht Zeit und Arbeit. Ich glaube, das erste Jahr muss man ein bisschen überleben.

 

Der Faktor Talent ist sicher auch nicht zu unterschätzen. Ich finde es aber immer wieder erstaunlich, wieviel man erreichen kann, wenn man sich klare Ziele setzt und diese hartnäckig verfolgt. Und wer bei den Wissenschafts-Olympiaden mitmacht, der hat gute Voraussetzungen für die ETH. Manchmal frage ich mich: Woher bringen diese jungen Menschen schon so viel Wissen und vernetztes Denken mit?

 

"Ich habe einige anspruchsvolle Dinge versucht — und bin gescheitert. Das war enttäuschend, aber auch lehrreich."

 

 

Als Wissenschaftlerin hat man die Möglichkeit, in unterschiedlichen Ländern zu leben. Sie haben in England studiert und promoviert, in Australien und auf den Fidschi-Inseln gearbeitet. Was hat Sie 1997 in die Schweiz geführt? Und welchen Herausforderungen mussten Sie sich stellen?

Mein Job auf den Fidschi-Inseln war sehr spannend, wir hatten die Aufgabe, Erddämme zu bauen. Danach kehrte ich nach Cambridge zurück und begann mit dem forschungsfokusierten Master of Philosophy. Anfangs zweifelte ich daran, ob ich fürs Forschen geeignet bin. Doch ich merkte rasch: Ich kann das. So kam meine akademische Karriere ins Rollen, ich promovierte und wurde Assistenz-Dozentin, dann Dozentin. Als ich mein 12-Jähriges Jubiläum in Cambridge feierte, erhielt ich einen Brief von einem ETH-Professor. Er fragte mich, ob ich mich als Professorin für Geotechnik bewerben möchte. Mein erster Gedanke: Dafür bin ich zu jung. Doch ich schob meine Zweifel zur Seite und bewarb mich.

 

Frisch in der Schweiz, haben mich vor allem die Sprache und die andere Kultur herausgefordert. Eine britische Lady in der Schweiz der 90er-Jahre: Ich war die erste Professorin in den Bauingenieurswissenschaften in der Schweiz, die Kultur war akademisch und gesellschaftlich sehr männlich geprägt. Es war gerade mal sechs Jahre her, dass der letzte Kanton das Frauenstimmrecht einführte, das spürte man. Und hätte ich einen Ehemann gehabt, dann hätte er die Einreisebewilligung erhalten — und nicht ich als Professorin.

 

Ich habe versucht, eine Win-Win-Situation zu schaffen, denn ich wusste, was ich der ETH zu bieten habe. Die Hochschule kam mir entgegen und war bereit, mich zu unterstützen. Ich begann intensiv Deutsch zu lernen. Meine erste Vorlesung war sprachlich eine schmerzliche Angelegenheit — für mich und die Studierenden (lacht). Nach neun Monaten war ich dann soweit, meine erste Vorlesung frei auf Deutsch zu halten. Keine brillante Leistung, aber es funktionierte. Das ist auch der Grund, weshalb ich heute hier als Rektorin stehe: Ich bin mutig.

 

 

Sie haben als Triathletin, Wissenschaftlerin und Rektorin viel erreicht. Gab es in Ihrer Karriere einen bestimmten Moment, wo sie dachten: "Wow, jetzt kann ich stolz auf mich sein?"

Stolz ist ein Wort, dass ich sehr selten benutze. Auf meine Doktorierenden bin ich stolz, aber auf mich selber? Das ist nicht sehr schweizerisch, und ich bin wirklich auf bestem Weg dazu, Schweizerin zu werden, die 90% habe ich erreicht (schmunzelt).

 

Mein Selbstvertrauen hat vielleicht auch mit meiner Kindheit zu tun: Ich war die älteste von vier Geschwistern und die einzige Frau. Meine Brüder erhielten mehr Aufmerksamkeit, auch weil sie in der Überzahl waren. Ich glaube, es war wichtig, dass ich damals gelernt habe zu sagen: „Hey, ich bin auch noch hier und ich leiste auch etwas“. Diese Situation hat mich am Anfang motiviert — und mich vielleicht auch später dazu angespornt, Erfolg zu haben, in der Wissenschaft und im Sport. Ich war während fünf Jahren ungeschlagen in Grossbritannien. Der Stress vor jedem Rennen war sehr gross, ich schlief nicht mehr gut. Nach dem ersten verlorenen Rennen war ich erleichtert, der Druck war weg. Ich habe mich dann auf die Dissertation konzentriert und mir gesagt: Ich versuche mein Bestes im Sport, wenn es nicht mehr für Siege reicht, tant pis.

 

 

"Auf meine Doktorierenden bin ich stolz, aber auf mich selber? Das ist nicht sehr schweizerisch. Und ich bin auf dem besten Weg zur Schweizerin." (lacht)

 

 

Wer hohe Erwartungen an sich hat, der muss auch Misserfolge wegstecken können. Wie motivieren Sie sich nach Situationen, die nicht wie gewünscht verlaufen?

Ich habe einige anspruchsvolle Dinge versucht — und bin gescheitert. Das war natürlich enttäuschend. Andererseits hat es mir erlaubt, zu reflektieren: Warum war ich nicht erfolgreich? Jahre später hat mir dieses Nachdenken geholfen.

 

Ein Beispiel: 2007 wurde ich eingeladen, als Präsidentin der ETH zu kandidieren. Es war nicht meine Idee, ich dachte damals, dass zu viele Dinge gegen mich sprechen würden: Ich bin Ausländerin, Frau und Bauingenieurin. Man hat mich trotzdem ermutigt. Als Athletin habe ich mich ins Rennen gestürzt, eine Präsentation aus dem Boden gestampft und überzeugt. Als man mir sagte, ich sei unter den drei besten Kandidierenden, war ich überrascht und geschockt. Aus unterschiedlichen Gründen, auch aus politischen, hat es mit der Stelle dann doch nicht geklappt. Im Nachhinein habe ich das begrüsst. Als ich später von meinem Departement nominiert wurde als Rektorin, hat mir diese Erfahrung sehr geholfen, um eine bessere Kandidatur einzureichen.

 

 

"Ich finde es wichtig, dass man bei sexistischen Situationen reagiert: Man muss für sich und andere Frauen einstehen."

 

 

Wechseln wir das Thema: Sexistisches Verhalten kommt auch in der Wissenschaft vor. Ein Beispiel: An der European Girls' Mathematical Olympiad 2018 hat sich ein Teamleader negativ darüber geäussert, dass die Leaderin der Schweiz weiblich war. Wie hätten Sie hier reagiert?

Ich habe zwei Antworten für Sie. Sie sind abhängig von der jeweiligen Situation, für die man ein Gespür entwickeln muss: Wie setzt sich die Gruppe zusammen? Teilen die anderen Personen seine Meinung? Oder kann man mit einem Witz die Situation drehen? Man kann sich zum Beispiel Verbündete suchen und sagen: "Hey, was denkst du über diesen Kerl? Meinst du nicht auch, dass wir ihn ein bisschen unterrichten sollten?" Herausfordernd oder witzig sein, das kann gut funktionieren, bedingt aber, dass man schnell und spontan reagieren kann und das ist nicht einfach. Humor ist wichtig, damit die angesprochene Person das Gesicht nicht ganz verliert und doch etwas lernt.

 

Die zweite Taktik ist, nicht direkt vor der Gruppe zu reagieren, sondern später das Gespräch mit der Person zu suchen. Ein Beispiel: Ein Kollege, der viel älter ist als ich, hat seine Präsentationen oft mit sehr sexistischen Aussagen über Frauen angefangen. Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich war Assistenz-Dozentin und dachte mir, dass es nicht viel bringen würde, wenn ich ihn öffentlich auf seinen Sexismus ansprechen würde. Ich suchte später das Gespräch mit ihm und fragte ihn: "Weisst du eigentlich, was du da tust? Für junge Frauen wie mich sind solche Aussagen schrecklich." Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich die Bauingenieurswissenschaften als Ort sah, bei dem alle willkommen sein sollen und nicht nur jene, die auf dirty old mens stories stehen. Von da an hat er es sein lassen mit den Sprüchen — jedenfalls wenn ich dabei war. Meine Reaktion hat also Wirkung gezeigt.

 

Einfach ist das Thema nicht. Aber man lernt mit der Zeit, damit umzugehen, man darf da verschiedenes ausprobieren. Frage zurück: Wie haben Sie in der Situation reagiert?

 

 

Ich wusste nicht, was tun und habe ehrlich gesagt versucht, es zu vergessen…

Das ist verständlich, aber dann wird es immer und immer wieder passieren. Man kann in solchen Situationen lernen, Verantwortung zu übernehmen und für sich und andere Frauen einstehen. Vielleicht waren in der betreffenden Gruppe alle robust und jede konnte damit für sich alleine umgehen. Aber was ist, wenn das jemand nicht kann, wenn solche Aussagen bei Frauen zu Belastung und mentalem Stress führen?

 

Ja, das ist ein guter Punkt. Vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben.

 

Interview: Ivana Klasovita, Informatik-Studentin an der ETH Zürich. Ivana interessiert sich leidenschaftlich für Wissenschaften, insbesondere für Mathematik und Algorithmen. Während dem Gymnasium nahm sie bei den Wissenschafts-Olympiaden teil (Mathematik, Informatik, Physik). Seit dem Studium engagiert sie sich als Freiwillige bei der Informatik-Olympiade. Ivana unterrichtet gerne, sie ist Teaching Assistant an der ETH und engagiert sich bei der Junior Euler Society.

 

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