Eine etwas andere Prüfung
10:10 Uhr. 90 Minuten für die Prüfung. Schulalltag? Nicht ganz, denn bei dieser Prüfung stehen keine Noten auf dem Spiel. Die Multiple-Choice-Fragen decken nicht nur den Schulstoff der letzten Lektionen ab. “Da waren Dinge dabei, die ich noch nie gesehen habe", wird ein Schüler später sagen. Es ist der 13. September und heute nehmen am Gymnase Intercantonal de la Broye (GYB) alle Abschlussklassen mit Schwerpunktfach Biologie und Chemie gleichzeitig an der ersten Runde der Schweizer Biologie-Olympiade teil. Damit ist das GYB in der Romandie eine der aktivsten Schulen bei der Biologie-Olympiade. Im Schuljahr 2023/2024 schickte das mit dem MINT-Label ausgezeichnete Gymnasium von allen französischsprachigen Schulen am meisten Teilnehmende an die Wissenschafts-Olympiaden.
Die systematische Teilnahme der GYB an der Biologie-Olympiade führt Lehrer Sébastien Déjardin auf den regen Austausch in der Fachschaft und den Enthusiasmus der Schülerschaft zurück. Auch das Rektorat begrüsse die Teilnahme, fügt sein Kollege José Fos hinzu. Die beiden Biologielehrer sehen die Möglichkeit einer Teilnahme als Chance für die Schülerinnen und Schüler.
Sébastien Déjardin (links) und José Fos im Biologie-Lehrerzimmer.
Dass Teilnehmende vor allem von ihren Lehrpersonen auf den Wettbewerb aufmerksam gemacht werden, gilt für die meisten Wissenschafts-Olympiaden. Doch keine andere Wissenschafts-Olympiade setzt so sehr auf Lehrpersonen wie die Biologie. Der Zugang erfolgt über einen personalisierten Link oder Kopiervorlagen, die den Lehrpersonen direkt zugestellt werden. Die Prüfung findet unter ihrer Aufsicht statt, meist im Klassenverband. Dies nehmen offenbar viele Lehrpersonen in der Schweiz gern auf sich: 1’767 Jugendliche absolvierten 2024 die erste Runde der Biologie-Olympiade. Eine der höchsten Teilnehmerzahlen aller Zeiten bei einer einzelnen Wissenschafts-Olympiade.
So läuft’s ab: Im Schuljahr 2024/2025 machen sich einmal mehr tausende von jungen Talenten aus der ganzen Schweiz auf eine Reise, deren Dauer und Ausgang unbekannt ist: Die Teilnahme an einer Wissenschafts-Olympiade. In einer Artikelserie begleiten wir deren Ablauf, von der ersten Runde bis zum internationalen Wettbewerb. Während jeder Phase erleben die Teilnehmenden fachliche Förderung und soziale Begegnungen. Ein Blick hinter die Kulissen unserer Anlässe zeigt das freiwillige Engagement, das all das möglich macht.
Algorithmen für Anfänger
“So wenige Leute hier!”, ruft Austin erstaunt, als er in einem Seminarraum im Gebäude der exakten Wissenschaften Platz nimmt. Der 16-jährige Genfer hat es letztes Jahr bei der Mathematik-Olympiade weit gebracht. Heute ist er einer von 10 Teilnehmenden, die sich am 2. November für einen Workshop der Informatik-Olympiade an der Universität Bern versammelt haben. Während in Fächern wie Biologie nur die Besten der ersten Runde an Anlässe eingeladen werden, bietet die Informatik-Olympiade bereits potenziellen Teilnehmenden Workshops an, um den Einstieg zu erleichtern. Denn die erste Runde der Informatik-Olympiade hat es in sich. Statt sich einmal kurz Zeit zu nehmen für einen Multiple-Choice-Test, sitzen Teilnehmende oft über mehrere Wochen hinweg an ihren Aufgaben. Das lässt sich nicht leicht in den Unterricht integrieren, die Freizeit muss dafür herhalten. Kein Wunder, dass in Informatik viel weniger Jugendliche teilnehmen als zum Beispiel in Biologie: 2024 waren es 107.
“Wir bringen den Teilnehmenden hier C++, Greedy-Algorithmus, Scanline und Binary Search bei - ausserdem gibt’s gratis Mittagessen“, sagt die Freiwillige Anna, hier in der Mitte.
Austin (links) und Leonhard kennen sich schon von der Mathematik-Olympiade.
Auf den ersten Blick lesen sich die Aufgabenstellungen der Informatik-Olympiade wie Episoden aus Alice im Wunderland. Mysteriöse Urwaldhöhlen, wirre Wanderwege und trampolinspringende Mäuse. Dahinter stecken logische Probleme, die möglichst effizient gelöst werden müssen. Im Workshop zeichnet der Freiwillige Mikhail als Beispiel verschieden grosse Bananen an die Wandtafel. Wenn man maximal viel Banane essen will, lohnt es sich, erst die grösste Banane zu essen, dann die zweitgrösste, und so weiter. Möchte man aber möglichst viel Proviant in einen Wanderrucksack packen, der maximal sechs Kilo fassen kann, dann nimmt man besser zwei Rationen mit, die je drei Kilo wiegen, als eine, die fünf Kilo wiegt.
Mikhail arbeitet für Google und engagiert sich freiwillig für die Informatik-Olympiade.
Ist der passende Algorithmus einmal gefunden, muss dieser noch in Code ausgedrückt und zum Laufen gebracht werden. “Ich habe einen Informatikkurs in der Schule besucht, bei dem ich sogar etwas über Algorithmen gelernt habe”, erzählt Austin, “aber implementieren kann ich sie noch nicht so gut.” Im Workshop lernen die Teilnehmenden, Übungsaufgaben in der Programmiersprache C++ zu lösen. Wer nicht weiterkommt, wendet sich an die vielen Freiwilligen. Der Betreuungsschlüssel ist grosszügig, zeitweise sind sogar mehr Freiwillige als Teilnehmende anwesend. Wenn jemand frustriert ist, weil noch keine Aufgabe zu Ende gelöst werden konnte, leisten sie emotionale Unterstützung. Sie sind auch sofort zur Stelle, wenn es heisst: “Runtime Error!”
Keine Angst vor Enttäuschungen
Die Bildschirme der Schülerinnen und Schüler am GYB zeigen Diagramme über Enzymreaktionen, phylogenetische Bäume und Illustrationen von Einzellern. Für sie ist dieser in konzentrierter Stille gelöste Test der erste Berührungspunkt mit der Biologie-Olympiade. Obwohl die Prüfung gut konzipiert sei, sei sie für ihre Klassen eine Herausforderung, da einige der Themen erst später im Lehrplan vorkommen, erklären José Fos und Sébastien Déjardin. Aus diesem Grund nehmen hier auch nur die Abschlussklassen teil, obwohl die Olympiade allen Jahrgängen offensteht.
Angesichts des hohen Niveaus der Prüfungsfragen haben sich Déjardin und Fos auch schon gefragt, wer eigentlich dahintersteckt. Sie finden es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler auch einmal mit diesem höheren Schwierigkeitsgrad konfrontiert werden. Das sei für die Schülerinnen und Schüler keine Entmutigung, stellt Sébastien Déjardin fest. Vielmehr wird eine Qualifikation für die zweite Runde als positive Überraschung wahrgenommen.
Eine Schülerin erzählt auf ihrem Weg in die Mittagspause, dass sie gar nicht genau wisse, was einen erwartet, wenn man weiterkommt. Sie habe etwas von einem Lager gehört, meint eine andere Schülerin, nachdem sie die Zeit bis zum Schluss ausgenutzt hat und nach neunzig Minuten als Letzte abgegeben hat. Tatsächlich werden die besten Teilnehmenden der ersten Runde ins Lager der Biologie-Olympiade eingeladen, wo sie eine Woche lang von Freiwilligen lernen. José Fos meint, die Schülerinnen und Schüler, die es in die zweite Runde schaffen, seien sehr motiviert. Das Lager erlaube es ihnen, mehr zu lernen und Gleichgesinnte aus anderen Regionen zu treffen.
Wege zur Informatik-Olympiade
“Ich habe von der Informatik-Olympiade durch eine Mail von meinem Klassenlehrer erfahren”, erzählt Workshopteilnehmer Corsin. Auch wenn die Informatik-Olympiade, anders als die Biologie-Olympiade, auf die individuelle Teilnahme ausgelegt ist, werden viele durch ihre Lehrpersonen oder Schulen zur Teilnahme ermutigt. Einige gehen aber auch andere Wege. Mit 13 und 8 Jahren sind die Brüder Mengma und Xirui die jüngsten Workshopteilnehmer. Sie leben seit etwa einem Jahr in der Schweiz. “In China haben wir auch schon an Informatikwettbewerben teilgenommen”, erklärt der Ältere. Nach dem Umzug habe er ganz gezielt nach ähnlichen Angeboten gesucht.
Eine 15-jährige Teilnehmerin aus Thun erzählt, wie sie ein paar Lektionen von einem Bekannten der Mutter erhalten hat, der sich als Freiwilliger der Informatik-Olympiade herausstellte und ihr den Workshop empfahl. Hier lerne sie alles quasi von null, meint sie. Ein bisschen Vorwissen bringen aber tatsächlich alle im Workshop mit. Denn dieses Jahr musste man erstmals eine Vorrunde mit einfacheren Aufgaben lösen, um sich überhaupt anmelden zu können. Gleichzeitig dürfen Teilnehmende, die es schon einmal ins Lager der zweiten Runde geschafft haben, nicht mehr an die Einführungsworkshops kommen, damit das Niveau nicht zu hoch wird.
Wer trotzdem schon etwas weiter ist, setzt sich während des Workshops in einen anderen Seminarraum. Zu Leonhard, der sich als Fortgeschrittener angemeldet hat, um die Herausforderung zu suchen. Zu einem Informatiklehrling, dem die Olympiade von einem Freund empfohlen wurde. Und zu einer Teilnehmerin, die sich das Programmieren in der Sekundarschule beibrachte, als sie zu viel Freizeit hatte.
An der Wandtafel steht Théo. Er ist kaum älter als die Teilnehmenden, die er unterrichtet.
Viele der Freiwilligen, die in diesem Workshop ihr Wissen weitergeben, sind Studierende, die vor wenigen Jahren noch selbst teilgenommen haben. So auch Jasmin, die den Workshop zum ersten Mal organisiert hat.
Jasmin (vorne links) und Théo (hinten links) unterhalten sich beim Mittagessen mit Benjamin und Charlotte (rechts), Präsident und Vize-Präsidentin der Informatik-Olympiade.
Die Freiwilligen Anna (ganz links), Jasmin, Mark und Mikhail und eine Teilnehmerin spielen mit eigens für die Informatik-Olympiade angefertigten Karten.
Sie hat Emails hin- und hergeschickt, Tische im Restaurant reserviert und Freiwillige zusammengetrommelt. Zu Beginn des Workshops fordert sie die Teilnehmenden auf, sich nach Alter aufzureihen oder die Arme zu einem Gordischen Knoten zusammenzulegen.
Das Eis bekommt erste Risse. Als gegen Mittag das gemeinsame Essen ansteht, ist es grösstenteils geschmolzen. Kaum haben sie den letzten Bissen runtergeschluckt, packen die Jugendlichen Spielkarten aus. Auch wenn der Workshop nur einen Tag dauert und vollgepackt ist mit Vorlesungen und Übungen, schaffen es die Teilnehmenden und Freiwilligen irgendwie, jede freie Minute mit Spielen und Gesprächen zu füllen. Wenn sie die erste Runde schaffen, kann man sich vorstellen, wie viel sie erst aus einem einwöchigen Lager rausholen können.
Auf die erste Runde folgt bei vielen Wissenschafts-Olympiaden, auch bei Biologie und Informatik, ein Lager. Das gilt aber nicht für alle. Im nächsten Teil der Artikelserie, der im Februar erscheint, tüfteln wir im Physiklager mit und lernen im Workshop der Linguistik-Olympiade, unbekannte Sprachen zu entschlüsseln. Jetzt den Newsletter abonnieren oder auf Instagram oder Linkedin folgen, um nichts zu verpassen!