Wissen ist überall. Dokumente und Datenbanken sind voll davon. Dr. Michele Dolfi beschäftigt sich bei IBM Research damit, wie wir uns in dieser Fülle von Informationen zurechtfinden - beispielsweise mit künstlicher Intelligenz. Früher war er Präsident der Wissenschafts-Olympiade. Wir haben ihn nach Karrieretipps gefragt und dabei überraschend viel über PDFs gelernt.
Du bist technischer Leiter in der Gruppe “AI for Knowledge” im Labor von IBM Research in Zürich. Wie sieht ein durchschnittlicher Arbeitstag bei dir aus?
Ich arbeite mit Menschen auf der ganzen Welt zusammen, daher starte ich oft in den Tag, indem ich schaue, was es aus den anderen Zeitzonen Neues gibt. Ich habe auch Meetings mit meiner Gruppe oder mit Kunden. Dann gibt es Zeiträume, die der Arbeit an unseren Projekten gewidmet sind und während derer ich zum Beispiel etwas programmiere.
An was für Projekten arbeitet deine Forschungsgruppe?
Als ich 2017 nach meiner Promotion in theoretischer Physik dazu kam, war unser Grundgedanke: Wissen erforschen. Die Vision war es, ein System zu entwickeln, das das Wissen aus Publikationen sammeln und durchsuchbar machen kann. Dies erwies sich als etwas schwieriger als erwartet. Eins der ersten Probleme, mit denen wir konfrontiert wurden, waren PDF-Dokumente. Publikationen liegen in der Regel im PDF-Format vor, und diese eignen sich zwar gut für den Druck und um Inhalte auf einer Seite darzustellen, aber es ist gar nicht so einfach, Informationen aus ihnen zu extrahieren. Ein PDF-Dokument besteht aus vielen kleinen Kästchen, die nicht unbedingt mit Zeilen oder Wörtern übereinstimmen. Und von den Tabellen will ich gar nicht erst anfangen!
Da PDFs so weit verbreitet sind, ist eine Technologie, mit der man sie gut konvertieren kann, sehr viel wert. Daher haben wir auch direkt angefangen, mit Kunden zu arbeiten. Im Jahr 2018 hatten wir sogar die Gelegenheit, mit dem Produktteam von IBM zusammenzuarbeiten, um einige unserer Forschungsergebnisse zu einem offiziellen IBM-Produkt zu machen. Das war genau die Art von Erfahrung, nach der ich in meiner Arbeit gesucht hatte.Ich nehme gerne einfache Forschungsideen und mache daraus etwas Nützliches.
PDFs sind komplizierter als gedacht! Kannst du noch ein Beispiel nennen für eine Herausforderung, die dich im Moment auf Trab hält?
Der Grundgedanke ist seit den Anfängen unserer Forschungsgruppe derselbe geblieben, aber natürlich bringen neue Entwicklungen auch neue Herausforderungen mit sich. Letztes Jahr haben wir einen gewaltigen Wandel im Bereich der künstlichen Intelligenz erlebt. Large Language Models eröffnen neue Möglichkeiten. Zusammen mit anderen bei IBM hat unsere Gruppe begonnen, an Lösungen zu arbeiten für einige der Probleme mit generativer KI.
Wenn man einer KI eine Frage stellt, erzählt sie einem eine nette, aber nicht unbedingt wahre Geschichte. Dabei verwendet sie die Daten, mit denen sie trainiert wurde. Wenn ein Unternehmen KI einsetzen möchte, um mit seinen internen Daten zu arbeiten, wurde das Modell wahrscheinlich nicht darauf trainiert, weshalb die Antworten nicht sehr nützlich sein werden. Ausserdem möchten man vielleicht nicht, dass internet Daten an die Öffentlichkeit gelangen! Wir haben eine Möglichkeit gefunden, interne Daten so zu speichern, dass die KI sie durchsuchen und die relevanten Teile in ihre generierten Antworten einbeziehen kann. Auf diese Weise weiss man auch, woher die KI ihre Antworten nimmt, was sie vertrauenswürdiger macht.
Teilnehmende der Physik-Olympiade besuchen IBM Research in Zürich während der zweiten Runde 2024. (Bild: Sebastian Käser)
Einige der jungen Forschenden im Umfeld der Wissenschafts-Olympiade fragen sich wahrscheinlich, ob sie einen akademischen Weg an der Universität einschlagen oder in die Industrie gehen sollen. Was hast du für Erfahrungen gemacht?
Ich nehme es so wahr, dass IBM Research irgendwo dazwischen liegt. Wir betreiben Forschung in der Industrie, sind aber weniger produktorientiert und eng mit der akademischen Welt verbunden. Wir arbeiten sogar an Forschungsprojekten mit, die vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert werden. Weltweit gibt es zwölf IBM Forschungslabore, und unsere Aufgabe ist es, das organische Wachstum des Unternehmens zu fördern. Wir wollen nicht nur Innovationen auf den Markt bringen, sondern wir erkunden auch die Zukunft der Informatik selbst, zum Beispiel durch die Arbeit am Quantencomputing.
Das Labor von IBM Research Europe in Zürich deckt vier Forschungsbereiche ab: Accelerated Discovery & AI, Hybrid Cloud Research, Security Research und Science of Quantum and Information Technology. Zum Campus gehört auch das Binnig and Rohrer Nanotechnology Center mit einem Reinraum und geräuschfreien Laboratorien. Mehr erfahren: IBM Research Europe | Zurich
Wirst du bei deiner Arbeit meistens mit der Lösung eines bestimmten Problems beauftragt oder kannst du auch eigenen Ideen einbringen und verfolgen?
Wir haben viele Freiheiten. Wenn man eine Idee hat, die man veröffentlichen oder auf einer Konferenz vorstellen möchte, dann kann man das tun. Wenn man mit einem Kunden, zum Beispiel einem Privatunternehmen, zusammenarbeitet, hat man natürlich in erster Linie den Auftrag, das Problem des Kunden zu lösen. Wir können jedoch unser Fachwissen einbringen, und die Kunden schätzen unseren Input. Manchmal vereinbaren wir Entwicklungskooperationen mit Kunden, bei denen wir gemeinsam an der Lösung eines Problems arbeiten.
Welche drei Tipps würdest du Leserinnen und Lesern geben, die am Anfang ihrer Karriere stehen?
Erstens: Tausch dich mit deinen Kollegen aus und integrier dich ins Team. Andere schätzen es sehr, wenn man ihnen auch hilft und nicht nur selbst um Hilfe bittet. Zweitens: Mach deine Arbeit nicht nur um ihrer selbst willen, sondern überleg dir, wie du damit etwas Nützliches tun kannst. Es gibt viele Möglichkeiten, wie du anderen mit deiner Arbeit einen Dienst erweisen kannst: Du könntest deinen Code Open Source zur Verfügung stellen, du könntest ein Netzwerk von Menschen mit gleichen Interessen aufbauen oder dein Projekt in ein Produkt verwandeln. Drittens: Engagiere dich ehrenamtlich! Dadurch bekommst du viele Möglichkeiten, zu experimentieren und neue Fähigkeiten zu erwerben. Führung, Teamarbeit, Buchhaltung, das Betreiben einer Website ... all das wirst du später in deinem Beruf brauchen.
Michele Dolfi (vorne links) als Teil der Schweizer Delegation an der IPhO 2006 in Spanien. (Bild: Alfredo Mastrocola)
Du hast dich freiwillig für die Wissenschafts-Olympiade engagiert, nachdem du 2005 und 2006 an der Physik-Olympiade teilgenommen und sogar beim allerersten OlyDay mit Altbundesrat Pascal Couchepin dabei warst. Welchen Einfluss hatte die Wissenschafts-Olympiade auf deinen Werdegang?
Ich bin mir fast sicher, dass alles anders gelaufen wäre, wenn ich nicht an der Wissenschafts-Olympiade teilgenommen hätte. Während meiner Promotion an der ETH stellte sich während einer Kaffeepause heraus, dass viele meiner Kollegen und sogar einer der Professoren an verschiedenen Wissenschafts-Olympiaden teilgenommen hatten. Ich war nicht der Einzige mit dieser Erfahrung. Als wir 2016 die Internationale Physik-Olympiade in der Schweiz organisierten, haben wir das Tool "OlyExamss" entwickelt, das heute weit verbreitet ist. Ich benutze für meine Arbeit bei IBM immer noch dieselben Werkzeuge, die ich schon für "OlyExams" verwendet habe.
IBM Research Europe - Zurich teilt das Ziel der Wissenschafts-Olympiade, intellektuelle Talente zu fördern. Das Forschungslabor ermöglicht Teilnehmenden und Freiwilligen interessante Einblicke in verschiedene Forschungsfelder, an der Schnittstelle von Theorie und Praxis.
Von 2016 bis 2020 warst du Präsident des Vorstands der Wissenschafts-Olympiade. Es war eine der dynamischsten Zeiten in der 20-jährigen Geschichte des Dachverbands: eine neue Corporate Identity, eine neue Co-Geschäftsführung, neue Vereine... Gibt es etwas, das du rückblickend anders machen würdest?
Wir wollten das Gefühl stärken, dass wir eins sind, die Wissenschafts-Olympiade statt zehn getrennte Wissenschafts-Olympiaden. Das kam bei einigen Leuten sehr gut an, vor allem bei denen, die im Vorstand aktiv sind, aber die Botschaft war auch umstritten und ging ein bisschen verloren auf dem Weg zu den Mitgliedern der einzelnen Vereine. Ich denke, wir hätten da mehr erreichen können, aber man kann nicht alles tun.
Für die Zukunft würde ich die Wissenschafts-Olympiaden ermutigen, ihre Mitglieder nicht nur unter ehemaligen Teilnehmenden, sondern auch unter Lehrpersonen zu rekrutieren. Eine einzige Lehrperson kann mehrere Klassen von Schülern für den Wettbewerb gewinnen, und das über viele Jahre hinweg. Es wäre von unschätzbarem Wert, mehr Lehrpersonen als Freiwillige zu haben.