21.01.2020

Chancengerechtigkeit

Wenn sich die "Extraschlaufe" Doktorat lohnt

Als Simona Isler sich für ein Doktorat entscheidet, ahnt sie, dass der Berufseinstieg später nicht einfach werden würde. Doch das ist für die Historikerin sekundär. Die Lust, sich wissenschaftlich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihr "am Herzen liegt" ist gross, der Wille auch. Ein Interview mit der heutigen Gleichstellungsbeauftragten des Schweizerischen Nationalfonds SNF.

Bilder: Severin Nowacki

Wissenschafts-Olympiade: Simona Isler, Sie sind Gleichstellungsbeauftragte beim Schweizerischen Nationalfonds SNF. Was heisst das konkret? Wie muss man sich Ihren Alltag vorstellen? 

Simona Isler: Ich bin zuständig für den Bereich Forschungsförderung. Meine Arbeit bezieht sich also auf die Forscherinnen, die der SNF unterstützt, und nicht auf Mitarbeitende hier an der Geschäftsstelle. Ich habe eine klassische Querschnittsstelle, die strategische, kommunikative und operative Aufgaben umfasst. Zum Beispiel habe ich in der Erarbeitung des Mehrjahresprogramm 2021-2024 mitgewirkt, weil Gleichstellung hier als Schwerpunkt festgelegt wurde. Dann mache ich auch viel Kommunikationsarbeit, schreibe News zusammen mit der Kommunikationsabteilung oder werde von Universitäten und Institutionen für Vorträge eingeladen. Daneben gibt es auch operative Aufgaben: Ich bin die Ansprechperson für den sogenannten Flexibility Grant (Beitrag für Forschende mit Betreuungspflichten) und organisiere die Workshops, Coachings und Events des Prima Leadership Programms für Forscherinnen, die vom SNF einen PRIMA-Beitrag erhalten haben.  

 

"Ich glaube, dass sich meine Vorgesetzten eine junge und etwas freche Person gewünscht haben. Beides bringe ich mit." (lacht)

 

Welche Schritte haben sie zu ihrer jetzigen Arbeit geführt? Gab es eine bestimmte Entscheidung oder Begegnung, ohne die Sie heute nicht an dieser Stelle wären?

Ich habe Geschichte studiert, dann promoviert und mich spezialisiert auf die Geschichte der Frauenbewegung, des Feminismus und der Arbeit von Frauen. Meine Dissertation schrieb ich über die Politisierung der Arbeit in der Frauenbewegung um 1900. Ich habe mich noch während der Dissertation für den Job beim SNF beworben, ehrlich gesagt aber nicht damit gerechnet, dass ich grosse Chancen habe. Als ich die Zusage erhielt, habe ich mich sehr gefreut. Nebst meiner inhaltlichen Qualifizierung bringe ich langjähriges feministisches Engagement mit − eine Erfahrung, die ebenso wichtig ist. Ich glaube auch, dass sich meine Vorgesetzten eine junge und etwas freche Person gewünscht haben. Beides bringe ich mit (lacht).

 

 

 

Mit dem Doktorat sprechen Sie ein Thema an, das viele ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Wissenschafts-Olympiade beschäftigt. Soll man doktorieren, soll man nicht? Wieso haben sie sich dazu entschieden?

Im Nachhinein tönt mein Werdegang gradlinig: Studium, Doktorat, dann eine Stelle, bei der eine Dissertation Voraussetzung war. In dem Moment aber, in dem ich den Entscheid für das Doktorat fällen musste, hatte ich mir meine Zukunft anders vorgestellt. Ich habe die Dissertation nicht aus beruflichen Gründen gemacht, ich wusste damals schon: Ich bleibe nicht in der Wissenschaft. Ich habe während dem Studium mein erstes Kind bekommen, während der Dissertation das Zweite. Für mich war klar, dass ich nicht Professorin werden will, und zwar wegen der ständigen Unsicherheit, den tiefen Löhnen, dem Mobilitäts- und Karrieredruck. Ich wollte nicht 150% arbeiten, sondern Zeit haben für anderes − für Feminismus und für meine Kinder, zum Beispiel.

 

Mir hat sich daher schon die Frage gestellt, ob eine Dissertation überhaupt Sinn macht. Ich wusste, dass ich mich mit dem Doktortitel auf dieselben Stellen bewerben würde wie mit dem Masterabschluss. Tendenziell aber mit schlechteren Chancen, weil ich dann überqualifiziert bin, zu alt und noch ohne Berufserfahrung. Das Doktorat war eine Schlaufe, die überflüssig erschien aus beruflicher Sicht, unnötig, vielleicht sogar kontraproduktiv. Aber: Ich wollte es unbedingt machen. Ich hatte bereits viel Freude an der Masterarbeit und sehr Lust darauf, das Thema zu vertiefen. Ich dachte mir damals: Ich gönne mir das, gebe mir nochmals vier Jahre Zeit, um die Bücher zu lesen, die ich schon lange lesen wollte und um das Thema weiterzutreiben, das mir am Herzen liegt. Das war meine Motivation und am Schluss ging es auf. Als hätte ich das ganz schlau geplant, eine Karriere, bei der am Ende eine sichere, gut bezahlte und noch spannende Stelle herauskommt − aber so war es nicht.

 

"Man kann sehr unterschiedlich über Haus- oder Erwerbsarbeit nachdenken. Und auch über die Frage, welche denn nun die "richtige" oder "emanzipierte" Arbeit für Frauen ist."

 

Meine Schlussfolgerung: Es lohnt sich, das zu tun, was man will. Bei mir ist es aufgegangen, es kam sogar besser als in meiner Vorstellung. Ich rechnete damit, dass ich nach der Dissertation ein halbes Jahr arbeitslos sein und danach eine schlechtbezahle Arbeit bei einer NGO kriegen würde − aber ich hätte das in Kauf genommen. Es war aber auch viel Glück dabei. Ich kenne andere Personen, bei denen war es schwieriger.  

 

Ihre Geschichte zeigt, dass das Thema Feminismus und Gleichstellung Ihre Leidenschaft ist. Wie entstand dies? Gab es einen bestimmten Moment, bei dem Sie mit Ungerechtigkeit konfrontiert wurden, wo sie sich dachten: Da muss ich was tun?

Geprägt hat mich die Geburt meines Sohnes während des Studiums. Ich habe damals gemerkt, dass ich viel mehr Zeit mit ihm verbringen möchte, die 16 Wochen Mutterschaftsurlaub waren viel zu wenig. Mir wurde auch bewusst, dass es finanziell schwierig wird. Ich habe zwar noch zu 40% gearbeitet, kam aber nicht mehr vorwärts beim Studium. Irgendwann war ich auf Hilfe angewiesen. Mir wurde bewusst, dass ich wahnsinnig viel arbeite − das Studium, die Kinderbetreuung, die Erwerbsarbeit − und trotzdem nicht auf einen grünen Zweig komme. Ich war arm und konnte mein Studium kaum abschliessen.

 

Hier begann mein Interesse für diese Themen, zusammen mit zwei Freundinnen beschäftigte ich mich intensiver mit feministischer Ökonomie. In meiner Masterarbeit analysierte ich die Hausarbeitsdebatte im Feminismus der 70er Jahre. Ich merkte, dass man sehr unterschiedlich über Haus- oder Erwerbsarbeit nachdenken kann. Und auch über die Frage, welche denn nun die "richtige" oder "emanzipierte" Arbeit für Frauen ist. Zu erfahren, was es bedeutet, Mutter zu sein, das hat mein feministisches Selbstbild sehr geprägt.

 

 

"Es lohnt sich, das zu tun, was man will. Bei mir ist es aufgegangen, es kam sogar besser als in meiner Vorstellung. Es war aber auch viel Glück dabei. Ich kenne andere Personen, bei denen war es schwieriger."

 

Sie sind Historikerin. Wieso haben Sie vor Jahren beschlossen, Geschichte zu studieren? Was ist ihrer Meinung nach am wichtigsten bei der Studienwahl?

Geschichte war mein Lieblingsfach am Gymnasium. Meine beiden Lehrer haben den Unterricht sehr interessant gestaltet, es gab Raum für politische Diskussionen, die mich schon damals sehr interessierten. Vor der Studienwahl habe ich lange überlegt, ob ich nun wirklich mein Lieblingsfach studieren soll, irgendwie erschien mir das zu naheliegend. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, etwas ganz Anderes zu machen, Mathematik zum Beispiel, das lag mir auch gut. Ich kam dann aber zum Schluss, doch Geschichte zu studieren und würde das auch heute wieder tun.  

 

Wechseln wir das Thema. Der Fokus bei den Wissenschafts-Olympiaden liegt eher bei den Naturwissenschaften. Wie empfinden Sie beim SNF die Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften? Gibt es da Gräben? 

Das Spannende am SNF ist ja gerade, dass alle Disziplinen vertreten sind. Es kommt immer wieder zu Reibungen, allerdings nicht unbedingt in Bezug auf die Gleichstellung. Der SNF will überall gleiche Kriterien und Regeln, doch gerade von den Geisteswissenschaften gibt es hierzu immer wieder kritische Stimmen. Zum Beispiel in Bezug auf die Dauer des Doktorats, das bei den GeisteswissenschaftlerInnen in der Regel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als bei den NaturwissenschaftlerInnen. Hier gilt es, eine Balance zu finden, um allen gerecht zu werden.

Simonas Buchtipp: "Ich empfehle euch "Frauen im Laufgitter" von Iris von Roten. Das Buch stammt aus den 50er-Jahren, man muss es auch in diesem Kontext lesen. Gleichzeitig behandelt es genau die Themen, die uns heute bei der Frage nach Gleichstellung immer noch beschäftigen und es analysiert messerscharf die frauenfeindlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Einerseits merkt man, wie wütend und radikal die Autorin ist. Andererseits ist es aber auch ein sehr lustiges und lustvolles Buch, das sich bestens als Bettlektüre eignet."

 

Im Bezug auf die Gleichstellungskommission ist es uns wichtig, dass die Mitglieder nicht nur aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften kommen, sondern mindestens eine Person aus dem MINT-Bereich oder den Life Sciences kommt. Aber es ist schon so, dass wir Menschen suchen, die sich theoretisch mit diesen Fragestellungen auseinandersetzen und die stammen in der Regel aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften.

 

Wenn man, wie Sie, geisteswissenschaftlich unterwegs ist, dann ist das Schreiben ein ständiger Begleiter. Welche Arten von Texten schreiben Sie für ihre Arbeit beim SNF? Inwiefern fühlt sich das anders an, als das akademische Schreiben oder das journalistische Schreiben?

Als Studentin habe ich bei der Online-Redaktion von Der Bund gearbeitet, wirklich journalistisch tätig war ich aber nicht. Ich merkte rasch, dass das schnelle Tagesgeschäft nichts für mich ist. Die Dissertation habe ich gerne geschrieben, es war allerdings auch sehr anstrengend. Eine Monographie zu schreiben bedeutet, über Jahre immer wieder Energie aufzubringen, dieses eine Dokument zu öffnen und ein ganzes Buch daraus zu schöpfen. Was ich bei meiner jetzigen Arbeit schätze, ist der schnellere Rhythmus: Ich schreibe eine News oder einen Bericht zu einem spezifischen Thema, und gehe dann zum nächsten Text weiter. Der Nachteil daran ist natürlich, dass man weniger in die Tiefe gehen kann, als dies bei einem Buch der Fall ist. Was mir auch erst jetzt bewusst wurde: Als Geisteswissenschaftlerin habe ich durchaus ein Handwerk erlernt, das mir jetzt nützt. Ich kann in Kürze einen kohärenten Text kreieren.

 

Mehr zum Thema:

Interview: Lara Gafner, Präsidentin der Schweizer Philosophie-Olympiade und Masterstudentin in Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH Zürich

 

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